Lena Höft: Karl Aloys Schenzingers ‚Anilin‘ als „durchgesehene und
ergänzte Neuauflage“. Ein nationalsozialistischer Sachbuchbestseller und
seine Transformation in die Frühphase der Bundesrepublik.

Aus der Einleitung:

Man stelle sich einen großen Bestseller vor, einen, der nach heutigen Maßstäben in jeder Buchhandlung und auf jedem Bahnhof verkauft wird. Einen, über den alle sprechen und den viele gelesen haben. Solch ein Buch war im Dritten Reich Karl Aloys Schenzingers Tatsachenroman Anilin (1936).

Darin wird anhand von Forscherbiografien die Geschichte der deutschen chemischen Farbenindustrie geschildert – angefangen in den 1820er Jahren bis in die Gegenwart des Romans 1936. […]

Den Zielpunkt naturwissenschaftlich-technischer Forschungsprozesse und Entwicklungen bildet der Aufbau einer deutschen Chemieindustrie, die sich zur I.G. Farben zusammenschließt. Hier wird ein Betriebszusammenschluss zum Telos erklärt, der während des Zweiten Weltkriegs bekanntlich Zwangsarbeiter einsetzt, das Giftgas zum Genozid an den europäischen Juden und andere Gefangener in den Vernichtungslagern herstellt sowie an der Produktion von Rüstungsgütern beteiligt sein wird.
Vor diesem historischen Hintergrund ist es bemerkenswert, dass der NS-Bestseller Anilin nach dem Zweiten Weltkrieg abermals aufgelegt wurde. Auch Schenzinger und sein Verleger Wilhelm Andermann, mit dem er schon während des Dritten Reiches zusammenarbeitete, wissen um die Rolle der I.G. Farben während des Nationalsozialismus, denn sie machen mit der Chiffre ‚durchgesehene und ergänzte Neuauflage‘ deutlich, dass ihnen der Stoff bearbeitungsbedürftig erschien, um ihn in der Bundesrepublik erneut auf den Buchmarkt zu bringen. Anilin war mit 920000 verkauften Exemplaren während des Nationalsozialismus ungemein erfolgreich, hieran galt es anzuknüpfen. Also nahmen sie sprachliche Korrekturen am Text vor und ‚entnazifizieren‘ den Romantext, doch kann von keiner umfassenden Überarbeitung vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs gesprochen werden, sondern lediglich von der Minimalerfüllung einer selbst gewählten Pflichtaufgabe. Die Neuauflage Anilins (1949) verklausuliert die I.G. Farben zur Weltindustrie.

Die letzte Ausgabe Anilins erschien 1973, nach zahlreichen Buchclubausgaben und mehr als zwanzig Jahre nach der Neuauflage.

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Lena Höft (Jg. 1989) studierte Sekundarschullehramt für die Fächer Deutsch und ev. Religion (2008-2013). Seitdem arbeitet sie im interdisziplinären Promotionsstudiengang Sprache – Literatur – Gesellschaft. Wechselbezüge und Relevanzbeziehungen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg an ihrer Dissertation zum Thema: „Durchgesehene und ergänzte Neuauflage“. Systembruch und/oder Transformation? Fortschreibungen und Entnazifizierungen literarischer Sachbücher des Dritten Reiches in den 50er Jahren. Dieses Werk ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung ihrer Staatsexamensarbeit.